[NCFF 2017] Harmonium (2016 JP/FR)

Einer der schwer verdaulichsten und zugleich beeindruckensten Filme sollte erst gegen Ende der Nippon Connection laufen. Dabei hätte sich Fukada Kôjis Suspensedrama Harmonium, welches sich um Schuld und Sühne dreht, wohl besser als Rausschmeißer geeignet. Diese Pille wäre aber wohl zu bitter gewesen und hätte noch Tage später für Magenkrämpfe gesorgt. So war es also ’nur‘ der vorletzte Film des Festivals, der mit ästhetischer Raffinesse für Furore sorgte.

Werkstattbesitzer Toshio (Furutachi Kanji) lebt ein glückliches Leben: Verheiratet mit seiner Frau Akie (Tsutsui Mariko) und Vater einer Tochter, Besitzer eines ordentlich laufenden Ladens und völlige Harmonie im Leben. Zumindest an der Oberfläche scheint alles makellos. Als dann der mysteriöse Yasaka (Asano Tadanobu) vor Toshios Laden auftaucht und dieser ihm prompt eine Stelle als Aushilfe in der Werkstatt verschafft, wird diese Idylle jedoch einer strengen Prüfung unterzogen…

Harmonium beginnt völlig gewöhnlich. Regisseur Fukada Kôji filmt schnörkellos das Familienleben. Kein optischer Firlefanz, keine exquisite Einrichtung, keine herausstechende Mise en scene. Sieht man einmal vom ungewöhnlichen Instrument ab, nämlich dem Harmonium, auf welchem die Tochter regelmäßig probt, lässt sich meinen, es würde sich um ein authentisches Abbild einer ordinären japanischen Familie handeln. Diese Herangehensweise rückt die Akteure in den Vordergrund, der Rest wird zügig zur Nebensache. Zumindest was die Bildsprache angeht.

Und dann bricht Harmonium mit seiner Struktur; seinen Figuren, der Narration, dem Motiv. Einfach allem. Es braucht also erst einen Film der harmonisch beginnt und dann die Unruhe stiftet. Ein generelles Problem in der diesjährigen Programmauswahl, wie es scheint: Zu viele Filme folgen ihrem vorgestelltem Schema und exerzieren es bis zum Schluss durch. Die Überraschung bleibt aus, niemand traut sich, aus seinem Trott auszubrechen, um sich vom gewöhnlichen Einheitsbrei abzuheben. Zu oft wird die sichere Schiene gefahren, sodass Filme wie Happiness, Mr. Long oder The Long Excuse schon allein dadurch an Spannung gewinnen, weil sie ihre Wendungen nutzen, um das Spektakel anzufeuern. Und so geht es auch Fukada mit Harmonium an. Wo der Frieden in der Idylle allmählich bröckelt und sich langsam das Unbehagen gegenüber dem mechanisch anmutenden Yasaka ausbreitet, rüttelt eine einzige Einstellung an sämtlichen Konventionen, denen der Film bis dahin folgte. Mit einem Mal ist da Zorn und Wut, die Unbekümmertheit weicht der Fassungslosigkeit. Der in unschuldiges weiß gekleidete Fremde entblößt sein dunkelstes Innere.

Wenn sich ein Film nur auf seine Akteure reduziert, dann wandert der Blick unweigerlich über die stark aufspielende Besetzung, die nichts zu wünschen übrig lässt, hin zur Handlung. Und die reizt. Harmonium dreht sich um Schuld und Sühne und beschränkt sich weder auf nur eine Deutungsweise, noch auf eine Kommentierung der drastischen Thematik. Fehler in der Vergangenheit, das Leben mit den resultierenden Konsequenzen und gar die fokussierte Gnadenlosigkeit, mit der hier unerwartete Wenden eingeschlagen werden, die durchaus Raum zur Interpretation lassen, obwohl die Bilder doch eindeutig in ihrer Aussage sind. Es ist kein Film, der sich zur Deutung zwingt, aber sehr wohl etwas auszusagen hat und mit seiner zurückhaltenden, aber unter der Oberfläche brodelnden Unruhe ein hohes Maß an Gefühlsregungen bietet. Wenn der Trott aufgebrochen und die Sühne eingefordert wird, erst dann entfaltet der Film seine volle Wirkung und lässt zwei Welten aufeinanderprallen, bei denen nicht klar ist, wer hier den schlimmeren Makel mit sich führt.

[NCFF 2017] Harmonium (2016 JP)-TadanobuAsano

Es ist ein spannendes Spiel, dass Fukada hierbei treibt: Seiner gedeckten Ästhetik zum Trotz verwendet er zahlreiche Signale (hier die Farbe Rot), um den Zuschauer vor drohendem Unheil zu warnen. Und dennoch schlagen die grausamen Ereignisse in unerwartete Gefilde ein, verstören und erzeugen auf äußerst subversive Weise die Wut gegenüber dem ach so bemitleidenswerten Antagonisten, der von Asano Tadanobu so präzise und mit einer  Gestik und Mimik gespielt wird, dass es einem beim bloßen Anblick seiner Augen schon ganz kalt wird. Und wenn er dann noch unnatürlich stramm auf der Straße steht, ohne einen Muskel zu zucken, wird klar, dass er etwas Sonderbares zu verbergen hat?
Das allein ist wirkungsvoll. Doch erst im Zusammenspiel mit dem Sounddesign entwickelt der Film seine volle Wucht. Das titelgebende Harmonium steht dabei natürlich ganz klar für das oberflächlich betrachtete Familienglück. Doch das musikalische Leitmotiv verflüchtigt sich schon bald, genau wie das Idyll, welches durch das allmähliche Einmischen Yasakas bedroht wird. Der Soundtrack, weicht einem artifiziellen Tondesign, welches sich durch Stille oder verstärkte Naturgeräusche in den Schlüsselmomenten auszeichnet. Es lässt sich in der Tat von einem neuartigen Soundtrack sprechen, wenn sich der Verfall der Familie durch das zusehends lautere, reißende Geräusch eines strömenden Flusses verdeutlicht. Die geschilderte Nüchternheit intensiviert sich auf unbequeme Weise, und verleiht dem ganzen trotz der Künstlichkeit keinen abgehobenen Arthousetouch, sondern die unausweichliche elektrisierende Atmosphäre einer nahenden Katastrophe.

Im Q&A nach dem Screening erklärten Fukada Kôji und Komponist Onogawa Hiroyuki, wie es dazu kam: Der Einsatz des Harmoniums stand bereits im Vorfeld fest, weshalb Fukada noch scherzend zu seinem Komponisten Onogawa meinte, dass er sich bewusst sein solle, dass nicht viel Musik für den Film gebraucht werde. Was es für Onogawa nicht leichter machte und dieser so zumindest einige Monate Vorbereitung für das Instrument zur Verfügung hatte (dieses 200 Jahre alte Instrument, welches auch im Film zu sehen ist, wurde übrigens von Frankreich nach Japan verfrachtet und musste dort erst noch restauriert werden). Wer Harmonium gesehen hat, der wird nachvollziehen können, dass er tatsächlich von seinem natürlichen Sounddesign profitiert. Fukada entschied sich für den Einsatz von Stille und den verstärkten Umgebungsgeräuschen, weil er so vermeiden wollte, dass der Zuschauer von einem (emotionalen) Soundtrack zu sehr gesteuert werde. Er solle sich lieber selbst vorstellen, mit welchen Gefühlen er beim Sehen konfrontiert werde, anstatt sich diese von der Musik selbst diktieren zu lassen.
(Tatsächlich wollte er nach meiner Frage gar nicht mehr aufhören, darüber zu reflektieren… sympathischer Kerl!)

Harmonium ist ein bitterböses Suspensedrama mit Thrillerelementen, welches das gewohnte Schema laissez-faire aufbricht und mit seiner unausgesprochenen Bosheit so sehr in die Magengrube schlägt, dass man nicht umhin kommt, von der Finesse der Regie und Erzählung beeindruckt zu sein.

Und das beste? Der Film ist einer der wenigen Festivalfilme, bei dem eine Auswertung mit englischen Untertiteln bereits feststeht. Den Vertrieb in England wird Eureka! Entertainment übernehmen.

9,5/10 Punkte

[NCFF 2017] Harmonium (2016 JP)-PosterHarmonium [Fuchi ni tatsu; 淵に立つ]
Jahr: 2016 JP/FR
Laufzeit: 120 Minuten
Regie & Drehbuch: Fukada Kôji
Kamera: Negishi Ken’ichi
Musik: Onogawa Hiroyuki
Cast:
Asano Tadanobu, Furutachi Kanji, Mahiro Kana, Miura Takahiro, Shinokawa Momone, Taiga

Leichte Spoiler vorhanden!

Bilder [© 2016 FUCHI NI TATSU FILM PARTNERS & COMME DES CINEMAS]

3 Kommentare zu „[NCFF 2017] Harmonium (2016 JP/FR)“

    1. Danke. Während der ersten paar Minuten im Saal ging mir nur durch den Kopf: Wow, der sieht aber gewöhnlich aus. Umso überraschter ist man immer wieder, wenn er gerade deswegen so gut funktioniert.

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