Wilderness (2017 JP)

In naher Zukunft, kurz nach den Olympischen Spielen in Japan, ist der erhoffte Wirtschaftsboom wieder geplatzt, die Arbeitslosenrate infolgedessen extrem hoch. Mangelnde Perspektiven treiben gerade jugendliche Menschen zusehends in den Selbstmord und die allgemeine Zufriedenheit wird durch geplante Regierungsprojekte immer wieder gebrochen… In dieser Dystopie treffen zwei Männer aufeinander, die so verschieden sie auch sein mögen, zu Freunden werden und sich als aufstrebende Boxer durch diese Perspektivlosigkeit kämpfen.

Wilderness beruht auf dem Roman Vor meinen Augen… eine Wildnis… aus den 1960er Jahren und der Feder des avantgardistischen Autoren und Regisseurs Shûji Terayama.
Als ich das bei meiner Programmplanung las, war die Angst ausgesprochen groß, 304 Minutenlang ein existenzielles Drama am letzten Festivaltag zu sehen, welches unter Umständen fordernde avantgardistische Elemente beinhaltet und die Laufzeit wirklich spürbar machen. Doch diese (Ehr)Furcht stellte sich als völlig unbegründet heraus: Das einzige Element, welches dem ansatzweise gerecht wird, findet sich in einem notwendigen, jedoch auch sperrigen Nebenplot wieder, der aus Wilderness einen höchst politischen Kommentar macht. Und wenn vor dem Screening noch zwei Din A-4 Seiten mit eingesackten internationalen Filmpreisen (bester Hauptdarsteller, Nebendarsteller, bester Film, Zuschauerliebling) vorgelesen werden, die dieser Film bereits seit seinem Festivalrun eingesackt hat, dann wird man den Vorurteilen zu Trotz doch sehr hellhörig.

Es ist ein Film voller Gegensätze und Kontraste, die sich auf fantastische Weise ergänzen: Shinji (Masaki Suda), der gerade aus der Jugendhaft entlassen wurde und nun ohne Perspektive dasteht, und der Mittdreißiger und stotternde Halb-Japaner-Koreaner Kenji (Yang Ik-yune), der aufgrund seines Handicaps noch immer unter der häuslichen Tyrannei seines Vaters leidet. Eher zufällig kreuzen sich ihre Wege, als sie vom obskur wirkenden Horiguchi (Yusuke Santamaria) als Trainees für ein Boxstudio angeworben werden. Aus den beiden grundverschiedenen Männern werden unerwartet schnell Freunde, die sich gemeinsam durch ihre Probleme kämpfen.

Was kitschig klingt, ist mit viel Liebe zu den Figuren entwickelt. Denn hier gibt es keine wirklichen Antagonisten, die am Ende besiegt werden müssen, wie es in einem klassischen Sportfilm der Fall wäre. Diese Gegenspieler existieren nur in den Köpfen der Figuren – es sind Feindbilder, die sie sich nicht selten grundlos, selbst erschaffen haben. So erfährt man bereits früh im Film, dass zwischen Freund und Feind unlängst ein Akt der Versöhnung stattgefunden hat, während Shinji diesen Hass auf seinen alten Freund Yuji weiter mit sich herumträgt und als Antrieb und Motivation für seine Boxkarriere ausnutzt. Oder Kenji, der aus seinem, von der Gesellschaft erschaffenen Käfig des sozialen Außenseiters, ausbrechen will und gegen so viele Widrigkeiten antreten muss, dass man ihm einen ungeheuren Respekt für seine Tatkraft zollen muss, überhaupt den Schritt in den Sport gewagt zu haben. Es sind klassische Rollenbilder, die von Anfang an feststehen. Und das macht Wilderness auch innerdiegetisch in einem Gespräch zwischen Shinji und Kenji deutlich:

„You can’t be me. We walk on different paths.“ – Shinji

Und doch werden diese Erwartungen an die Rollen immer wieder durch kleine Szenen verschoben oder in ein neues Licht gerückt. Hier ist kein Charakter bloß schwarz und weiß. Es sind individuelle Menschen, die durch Herausforderungen wachsen oder daran zugrunde gehen. Die sich entweder ihrer Vergangenheit ergeben, oder sich ihr entgegenstellen – ähnlich wie es die zahlreichen Menschen im Film tun, die gegen geplante Gesetzesänderungen demonstrieren, die zahlreiche Einschnitte in ihre Leben nach sich ziehen würden. Oder sie planen eigene Projekte, um gegen soziale Missstände, wie etwa die hohe Selbstmordrate im Land, anzukämpfen. Ob die dahinterstehenden Motive immer edel sind, oder es überhaupt eine Veränderung bringt, das ist hier zweitrangig. Im Vordergrund steht erst einmal der Wille, etwas verändern zu wollen. Und das wird hier auf vielerlei Ebene in den Fokus genommen. Am deutlichsten natürlich durch die zentralen Figuren Shinji und Kenji. Und doch ist bemerkenswert, wie jede noch so kleine Rolle auf dieselbe Augenhöhe mit den anderen Figuren von Regisseur Yoshiyuki Kishi gestellt wird. Er übt einen respektvollen Umgang mit jeder seiner Figuren, hier ist niemand wegen seiner sozialen Herkunft oder seinem Willen zu Veränderung mehr oder weniger wert, als jeder andere Mensch. Er belohnt diejenigen, die sich aufraffen und er stellt jeder Figur mindestens eine weitere zur Seite, die in unterschiedlichen Funktionen ihre Unterstützung offeriert. Und so kommen die verschiedensten Konstellationen zustande, die auf den ersten Blick gar nicht erwartet werden und dem Zuschauer an manchen Stellen den vorverurteilenden Spiegel vor das Gesicht halten.

Perfekt gelungen ist dahingehend auch die Besetzung. Jede noch so kleine Nebenrolle ist so besetzt, dass sie mindestens einen Funken Sympathie mit sich herumträgt. Masaki Suda und Yang Ik-yune verkörpern mit einer Präzision ihre Rollenbilder, ohne dass sie in Klischeefallen tappen. Ihre grundlegenden Unterschiede schweißen sie erst zusammen, weshalb diese Freundschaft so stark nachhallt. Sie leben in eigenen Welten und doch respektieren sie sich für das, was sie sind und dem was sie anstreben. Etwas, was durch den Perspektivwechsel von Shinji auf Kenji im zweiten Teil des Films zusätzliche Früchte trägt. Aber auch die Nebenrollen klingen nach. Gerade Yosuke Santamaria hat sich als meine schauspielerische Neuentdeckung des Festivals herausgestellt. Sein verrucht anmutendes Äußeres wird von einer inneren Wärme überstrahlt, der humorvoll, aber auch als reifer Mentor der beiden Boxer auftritt. Überhaupt gestaltet sich die Besetzung als eigener Mikrokosmos im Film, der so facettenreich gestaltet ist und Humor an den richtigen Stellen zulässt, ohne dabei jedoch auf kommentierende soziokulturelle Missstände innerhalb der japanischen Gesellschaft zu verzichten. Denn ganz oben, da steht noch immer der Respekt für das Individuum.

Es mag vielleicht romantisiert erscheinen, dass am Ende fast jeder seinen ursprünglichen Wunsch, seine Motivik erfüllt bekommt. Was hier stellvertretend durch die finalen Boxkämpfe mit einer kraftvollen Audiovisualität in Szene gesetzt wird, sodass nicht nur die Zeit wie im Fluge vergeht, sondern auch die Emotionen hochkochen, man die Kämpfer anfeuert und mitten im Kampf plötzlich diese Sinnlosigkeit dieser Aktionen begreift. Das Aufeinanderprügeln, die totale Destruktion des Feindes, für die es so gar keine Existenzberechtigung mehr gibt. In die man sich reingesteigert hat und für die es einen hohen Preis zu zahlen gilt. Ich war so unfassbar ergriffen von diesen Momenten, die ihre Charaktere vollständig offenlegen und audiovisuell ihre inneren Konflikte in diese eindringlichen Bilder fassen. Es liegt eine Ehrlichkeit und Verletzlichkeit in diesen Augenblicken, für die ich Kishis Regie so wertschätze.

Wilderness ist aber auch kein Märchen, in dem sich die Hauptfiguren von sämtlichen Verpflichtungen lösen könnten. Sie haben neben ihrer Karriere als Boxer ein Alltagsleben, sie haben noch immer dieselben Sorgen außerhalb des Rings, die auf ihre Gemüter drücken. Diese Geschichte bezieht sich auf die Menschen als Ganzes, nicht nur einen Bruchteil ihres Lebens. Sie haben ihre eigenen Hintergründe und warum sie in dieser Perspektivlosigkeit feststecken. Ob nun die eigene Bandenvergangenheit, der eigene Vater, eine Naturkatastrophe (der schwere Tsunami im März 2011 und das nationale Trauma)… es sind unterschiedliche, ja, individuelle Situationen und Figuren, für die sich der Film die Zeit nimmt. Und für die es gar nicht notwendig ist, dass man die vielen narrativen Fäden am Ende zu einem Abschluss führt. Wilderness lässt einige (Charakter)Fragen bewusst offen und der Interpretation des Zuschauers überlassen.

Es ist die finale Involviertheit des Zuschauers in diesem existenziellen Drama, diese Fäden selbst zu einem Ende zu spinnen und das macht Wilderness zu einem imposanten, respektvollen und umwerfenden Portrait einer kaputten (japanischen) Gesellschaft, die sich, ähnlich Shinjis Mutter, an manchen Stellen weigert, aus der Vergangenheit nach vorne in die Zukunft zu treten. Es ist ein bittersüßes Manifest, das Yoshiyuki Kishi von einer Buchvorlage aus den 60er Jahren in die Gegenwart überträgt. Allein das sollte schon Bände sprechen.

Der mit Abstand beeindruckendste Film, den ich in diesem Jahr auf der Nippon Connection gesehen habe.

10/10 Punkte

Wilderness (2017 JP)-PosterWilderness: Part One & Two [Ah, kôya; Ah, kôya Kohen; あゝ、荒野; あゝ、荒野 後篇]
Jahr: 2017 JP | Laufzeit: 302 Minuten
Regie: Yoshiyuki Kishi | Drehbuch: (+) Takehiko Minato (liter. Vorlage: Shûji Terayama)
Kamera: Kozo Natsumi
Musik: Tarô Iwashiro
Cast:
Masaki Suda, Yang Ik-June, Yusuke Santamaria, Akari Kinoshita, Tae Kimura, Denden, Morooka Moro, Kazuya Takahashi, Anna Konno, Yuki Yamada, Aoba Kawai, Kou Maehara, Riku Hagiwara, Katsuya Kobayashi, Satoru Kawaguchi, Takashi Yamanaka

Bilder [© Star Sands]

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